Unter geopolitischem Druck entsteht ein neues Dokument – ​​doch wird es die Grundlage für Europas digitale Identität bilden oder lediglich ein politisches Instrument bleiben? Am 23. Juli berichteten Medien über Österreichs Pläne zur Schaffung einer Charta der digitalen Souveränität . Bundeskanzler Christian Stocker lud 27 Digitalminister und die EU-Kommissarin für technologische Souveränität, Henna Virkkunen, zu einem Arbeitstreffen am 12. September nach Wien ein. Hauptziel ist die Entwicklung eines gemeinsamen europäischen Verständnisses von technologischer Unabhängigkeit.

Diese Initiative steht nicht im luftleeren Raum. Es mehren sich die Befürchtungen, dass der ehemalige US-Präsident Donald Trump – oder zukünftige US-Regierungen – die Dominanz amerikanischer Digitalplattformen in Europa als politisches Druckmittel einsetzen könnten. In diesem Kontext erscheint das österreichische Projekt nicht nur als Versuch, den EU-internen Technologiemarkt zu organisieren, sondern auch als Geste zur Verteidigung der rechtlichen und strategischen Souveränität des Blocks.

Eine Rolle ähnlich der Charta der Grundrechte?

Die im Jahr 2000 verkündete und seit dem Vertrag von Lissabon 2009 rechtsverbindliche EU-Grundrechtecharta hat den Schutz der Menschenrechte in der gesamten Union gefestigt. Sie wurde zu einem Bezugspunkt für den Europäischen Gerichtshof , die Mitgliedstaaten und die Verwaltungsbehörden und harmonisierte Schutzmaßnahmen, die zuvor über verschiedene Verträge und die Rechtsprechung verstreut waren.

Könnte die Charta für digitale Souveränität eine ähnliche Rolle im Technologiesektor spielen? Sie soll formell im Dezember im Rahmen einer Zeremonie in Brüssel am Vorabend des von Dänemark geleiteten EU-Rats verabschiedet werden. Sollte sie zu einem verbindlichen politischen Dokument werden, könnte sie als „digitale Verfassung“ fungieren und nicht nur strategische Ziele, sondern auch die Werte der europäischen Digitalpolitik festlegen.

Politik vs. Rechte

Es besteht jedoch ein grundlegender Unterschied zwischen den beiden Chartas. Die Charta der Grundrechte ist normativ, schützt Einzelpersonen unmittelbar und ist vor Gericht einklagbar. Der Europäische Gerichtshof hat sie wiederholt als Maßstab bei der Bewertung von EU-Institutionen und Mitgliedstaaten herangezogen.

Die Charta zur digitalen Souveränität erscheint hingegen derzeit primär als politische Erklärung. Ihr Ziel ist es, angesichts hybrider Bedrohungen, wachsender technologischer Abhängigkeit und geopolitischen Drucks gemeinsame Leitlinien festzulegen. Es bleibt unklar, ob die Charta den Bürgern konkrete Rechte einräumen oder lediglich die Zuständigkeiten der EU-Institutionen und Mitgliedstaaten umreißen wird.

Im letzteren Fall hätte Europa anstelle einer „zweiten Grundrechtecharta“ ein strategisches Instrument, dessen Macht auf politischem Willen und nicht auf richterlicher Autorität beruht.

Österreich und Dänemark – Einheitsfront oder politische Geste?

Bemerkenswert ist, dass die österreichische Initiative Unterstützung von Dänemark erhält, das derzeit die EU-Ratspräsidentschaft innehat. Ein dänischer Sprecher bestätigte, dass technologische Souveränität Priorität erlangt habe, und hob den „guten Dialog“ mit Österreich hervor. Dies deutet darauf hin, dass die europäischen Hauptstädte angesichts des amerikanischen Drucks nach einer gemeinsamen Plattform suchen, um digitale Interessen zu verteidigen.

Die dänische Digitalministerin Carole Stage Olsen wird dem Treffen in Wien aufgrund ihres vollen Terminkalenders möglicherweise nicht beiwohnen. Solche symbolischen Abwesenheiten deuten darauf hin, dass politische Unterstützung leichter verkündet als in der Praxis umgesetzt wird.

Digitale Souveränität als neues Grundrecht?

Die Charta der Grundrechte schützt bereits die Privatsphäre, personenbezogene Daten und Kommunikationsfreiheit, die sich bis ins digitale Zeitalter erstrecken. Ist also eine neue Charta notwendig?

Die Antwort hängt davon ab, wie „digitale Souveränität“ definiert wird. Versteht man darunter den Schutz der Bürger vor Missbrauch durch globale Technologiekonzerne und ausländischer Einmischung, könnte die Charta als Erweiterung der Grundrechte auf neue Bereiche und als Schutz vor mächtigen privaten Akteuren gesehen werden.

Sollte das Ziel jedoch darin bestehen, die Autorität der EU und ihrer Mitgliedstaaten im Bereich der Technologieregulierung zu stärken, würde die Charta eher als politisches Instrument denn als Quelle individueller Rechte dienen. Ihre verfassungsrechtliche Bedeutung wäre dann weitaus geringer als die der Charta der Grundrechte.

Europa zwischen Erklärung und Realität

Die entscheidende Frage ist, ob Europa seinen Erklärungen zur digitalen Souveränität Taten folgen lassen kann. Amerikanische Plattformen dominieren soziale Medien, Cloud-Dienste und KI. Die Ausarbeitung von Charta ändert nichts an der Tatsache, dass der Markt weitgehend von Akteuren außerhalb der EU kontrolliert wird.

Aus dieser Perspektive betrachtet, könnte die Charta zur digitalen Souveränität ein symbolischer Versuch sein, die Kontrolle zurückzugewinnen – ein Bekenntnis dazu, dass Europa seine technologischen Ambitionen nicht aufgeben wird. Doch ohne eine kohärente Investitionsstrategie, Unterstützung für europäische Technologieunternehmen und robuste Regulierungsmechanismen läuft das Dokument Gefahr, eine bloße Geste des guten Willens zu bleiben.

Die geplante Unterzeichnungszeremonie am 4. Dezember in Brüssel wird der Höhepunkt des Projekts sein. Doch das politische Spektakel allein entscheidet nicht über die Rechtskraft. Erst die Praxis wird zeigen, ob die Charta – ähnlich der Charta der Grundrechte – zu einem Bezugspunkt für den Europäischen Gerichtshof, die nationalen Regulierungsbehörden und die Europäische Kommission wird.

Andernfalls dürfte die Charta der digitalen Souveränität als politische Erklärung fungieren, ähnlich vielen früheren programmatischen Dokumenten der europäischen Integration. In diesem Fall kann sie nicht als „zweite Werteverfassung“ bezeichnet werden, sondern vielmehr als Instrument zur Festigung des Konsenses über aktuelle geopolitische Herausforderungen.

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