Von Bürgern bis zu Kunden

Regeln werden zunehmend nicht mehr in Regierungsbehörden, sondern in den Vorstandsetagen des Silicon Valley, in Biotech-Laboren und auf dezentralen Netzwerkservern festgelegt. Rechtsstaatlichkeit, Wahlen und bürgerliche Kontrolle – einst Säulen der Gesellschaft – werden für einige Führungskräfte des digitalen Zeitalters eher zu Hindernissen als zu Fundamenten.

Konzernenklaven statt Staaten

Was einst wie die Handlung eines dystopischen Romans anmutete, beginnt Realität zu werden. Von Unternehmen geführte Städte ohne Wahlen und mit geringer demokratischer Kontrolle sind keine bloße Zukunftsvision mehr. Der Architekt und Stadtplaner Patrik Schumacher propagiert schon lange die Idee privater Städte in Europa, in denen Unternehmensstatuten lokale Gesetze ersetzen würden.

Dies ist nicht nur eine städtebauliche Vision – es ist eine grundlegende Machtverschiebung. Wenn der „Bürgermeister“ der CEO ist und lokale Regeln Dienstleistungsverträge darstellen, werden die Bürger zu Kunden. Anstatt abzustimmen, akzeptieren sie die Nutzungsbedingungen – eine Zustimmung, die jederzeit widerrufen werden kann. Lässt sich ein solches Modell mit der Idee eines demokratischen Europas vereinbaren?

Premium-Biopolitik

Die Grenzen dieser neuen Macht reichen über den physischen Raum hinaus und betreffen unseren Körper und unsere Gene. Unternehmen wie Orchid Health bieten die Auswahl von Embryonen anhand von Gesundheitszustand oder Intelligenz an, wobei der Zugang oft an sozialen Status und Kreditwürdigkeit geknüpft ist. Was einst als Eugenik galt, wird heute als „Lebensstilentscheidung“ vermarktet.

Elon Musk, der Neuralink bewirbt und sich für die „Steigerung der menschlichen Intelligenz“ einsetzt, bekennt sich offen zu dem Bestreben, die biologische Zukunft der Menschheit zu gestalten. Könnten Gesundheit und vererbte Merkmale zu Handelswaren werden, während genetische Vielfalt als Hindernis betrachtet wird? Diese Biotech-Projekte agieren nicht isoliert – sie basieren auf der Annahme, dass demokratische Prozesse bei der „Lösung von Problemen“ unwirksam seien. Wenn der menschliche Körper zur Ressource wird, können ethische Grenzen dann noch Bestand haben?

Kryptowährungen und DAOs: Freiheit oder Oligarchie?

Die digitale Finanzwelt offenbart die Kluft zwischen Ideologie und Realität. Kryptowährungen versprachen, die Bürger von Banken und Regierungen zu befreien, doch der Reichtum konzentrierte sich in den Händen weniger „Wale“, die die frühen Investitionen dominierten.

Dezentrale autonome Organisationen (DAOs), die als „führerlos“ beworben werden, funktionieren in der Praxis nach dem Prinzip „ein Token, eine Stimme“. Entscheidungen werden von denjenigen getroffen, die die meisten Token besitzen – also von denen mit dem meisten Geld. Maltas rechtliche Anerkennung und regulatorische Unterstützung für DAOs führt dieses Modell in die Europäische Union ein. Ist das EU-Recht bereit für ein System, in dem wirtschaftliche Macht die Gleichheit der Bürger überwiegt?

Ein transnationales Einflussnetzwerk

Die politische Dimension dieser Veränderungen ist ebenfalls besorgniserregend. Tech-Führer – von Musk bis Thiel – finden Verbündete in rechtsextremen europäischen Bewegungen wie der AfD in Deutschland, Vox in Spanien und Fratelli d’Italia in Italien. Sie teilen das Misstrauen gegenüber demokratischer Regulierung und die Überzeugung, dass Fortschritt Freiheit von staatlicher Kontrolle erfordert.

Dieser Trend ist nicht nur ein westliches Problem. Die Deregulierung von Kryptowährungen und intransparente dezentrale Systeme schaffen Kanäle für sanktionierte russische Eliten, um Kapital zu transferieren, während die Kreml-Propaganda jede Schwächung des Vertrauens in demokratische Institutionen ausnutzt. Kann die EU, die auf Rechtsstaatlichkeit basiert, die Infrastruktur ignorieren, die sich direkt vor ihren Augen bildet und Kräfte stärkt, die ihre Grundfesten untergraben?

Eine postdemokratische Ordnung – die Architektur von morgen

Private Städte, selektive Biotechnologien, Kryptofinanzierung und politische Allianzen bilden ein zusammenhängendes Muster. Es handelt sich dabei nicht um isolierte Innovationen – sie sind Bausteine ​​einer postdemokratischen Ordnung, in der die tatsächliche Macht von öffentlichen Institutionen auf Akteure außerhalb der Bürgerkontrolle verlagert wird.

Gibt es noch Mittel, diesem Trend entgegenzuwirken? Die Aktualisierung des Kartellrechts, die Ausweitung des Rechtsstaatsprinzips auf digitale Finanzen und Blockchain sowie die Förderung offener Debatten über Bioethik sind unerlässlich. Doch jenseits der Regulierung geht es um die Fähigkeit der Gesellschaft, ihre Selbstbestimmung zu verteidigen. Werden die Menschen noch für die Demokratie kämpfen, wenn Bürger zu Kunden und Staaten zu Dienstleistern werden?

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