Das Parlament stimmt für den Austritt aus der Istanbul-Konvention.

Das lettische Parlament (Saeima) stimmte für den Austritt aus der sogenannten Istanbul-Konvention – einem internationalen Vertrag des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt. Die Abstimmung, die nach 13-stündiger intensiver Debatte stattfand, offenbarte tiefe politische Spaltungen im Land und löste Massenproteste in der Hauptstadt aus.

Im 100 Sitze umfassenden Einkammerparlament stimmten 56 Abgeordnete für den Austritt, 32 dagegen und 2 enthielten sich. Die Entscheidung wurde nicht nur von Oppositionsparteien – darunter die konservativen Parteien Lettland Erste (LPV), Nationale Allianz (NA), Vereinigte Liste (LZS) und Für Stabilität! (S!) – unterstützt, sondern auch von einigen Mitgliedern der Koalition Union der Grünen und Bauern (ZZS), die sich gegen die Regierung und damit gegen Premierministerin Evika Siliņa und Präsident Egils Rinkēvičs stellten.

Mit diesem Schritt trat Lettland als erstes EU-Land aus der Istanbul-Konvention aus. Bislang hatte nur die Türkei im Jahr 2021 einen ähnlichen Schritt unternommen, der damals scharfe Kritik von der Europäischen Kommission und Menschenrechtsorganisationen hervorrief.

Ideologischer Streit über die Definition von Geschlecht

Die 2011 verabschiedete Istanbul-Konvention erkennt Gewalt gegen Frauen als Menschenrechtsverletzung an und verpflichtet die Staaten, Opfer zu schützen und Täter zu verfolgen. Das Dokument definiert zudem den Begriff des Geschlechts im sozialen Kontext – als ein Konstrukt, das Rollen und Stereotypen in den Beziehungen zwischen Frauen und Männern beeinflusst.

Genau diese Bestimmung rückte in Lettland in den Mittelpunkt der öffentlichen Debatte. Gegner des Übereinkommens – vorwiegend aus nationalistisch-konservativen Kreisen – argumentieren, das Dokument „fördere eine Genderideologie“ und „zwinge fremde Werte auf“, indem es Geschlecht auf eine Weise neu definiere, die der traditionellen Gesellschaftsordnung widerspreche.

„Das Übereinkommen löst das Problem der Gewalt nicht. Der Schutz vor häuslicher Gewalt existierte bereits vor seiner Ratifizierung in unserem Recht“, sagte der Abgeordnete Gunārs Gutris von der Union der Grünen und Bauern in einem Interview mit Reuters.

Derweil argumentierte Sozialminister Reinis Uzulnieks, der selbst den Austritt befürwortete, dass der Vertrag „zu unnötigen sozialen Spannungen führt“ und dass „der Kampf gegen Gewalt keine internationalen Verpflichtungen erfordert“.

Evika SILIŅA (Premierministerin Lettlands). Quelle: Europarat

António COSTA (Präsident des Europäischen Rates), Evika SILIŅA (Premierministerin, Lettland). Quelle: Consilium Europa

Proteste und zivilgesellschaftlicher Widerstand

Die Parlamentsentscheidung löste umgehend eine gesellschaftliche Reaktion aus. In Riga fand die größte Demonstration seit Jahren mit rund fünftausend Teilnehmern statt. Die Protestierenden skandierten Parolen wie „Lettland ist nicht Russland!“ und „Liebe statt Gewalt!“ und forderten den Verbleib Lettlands im Übereinkommen und den Schutz der Frauenrechte.

Ministerpräsidentin Evika Siliņa, die sich für den Verbleib im Vertrag ausgesprochen hatte, wandte sich persönlich an die Menge und mahnte zur Verteidigung europäischer Werte und zur Solidarität mit den Opfern von Gewalt.

„Der Austritt aus dem Übereinkommen ist ein verheerender Schlag für Lettlands Position in der Europäischen Union und auf der internationalen Bühne“, warnte Andris Suvajevs, Vorsitzender der liberalen Fortschrittspartei, einer der Koalitionsparteien.

Echos in ganz Europa

Damit das Gesetz zum Austritt aus dem Übereinkommen in Kraft treten kann, muss es noch von Präsident Egils Rinkēvičs unterzeichnet werden, der dafür zehn Tage Zeit hat. Das Staatsoberhaupt kann das Dokument auch zur erneuten Prüfung zurückverweisen oder – auf Antrag einer Abgeordnetengruppe – dessen Veröffentlichung aussetzen. Bislang hat sich Rinkēvičs nicht dazu geäußert, obwohl er sich zuvor für die Ratifizierung des Übereinkommens als „Instrument für einen wirksamen Schutz von Frauen“ ausgesprochen hatte.

Die Entscheidung in Lettland hat in den EU-Institutionen Besorgnis ausgelöst, da die Konvention dort als Eckpfeiler der europäischen Gleichstellungs- und Menschenrechtspolitik gilt. Obwohl Gegner des Dokuments in Riga argumentieren, dass „das lettische Recht ausreichenden Schutz für Opfer bietet“, befürchten viele Beobachter, dass die Parlamentsentscheidung Lettlands einen Präzedenzfall für andere Länder der Region schaffen könnte, in der konservative Kräfte an Einfluss gewinnen.

Lettland [Quelle: Canva]

Lettland [Quelle: Canva]

Ein symbolischer Moment für Osteuropa

Lettlands Austritt aus der Istanbul-Konvention hat über die nationale Politik hinausgehende Bedeutung. Er signalisiert, dass die Spannung zwischen traditionellen nationalen Werten und liberalen europäischen Standards weiterhin zu den zentralen Streitpunkten der Region zählt. Für viele Letten bedeutet die Parlamentsentscheidung einen Rückschritt, für andere hingegen die Wiedererlangung der Souveränität in moralischen Fragen.

Eines ist sicher: Ungeachtet der Entscheidung des Präsidenten hat Lettland ein neues Kapitel in der europäischen Debatte über die Grenzen von Ideologie, Identität und Menschenrechten aufgeschlagen.

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