Der europäische Arbeitsmarkt sendet gemischte Signale. Einerseits steigen die Beschäftigungsquoten und die Wirtschaft erholt sich nach der Pandemie. Andererseits herrscht in vielen Branchen ein eklatanter Mangel an Arbeitskräften – während andere von Talenten überflutet sind, die nirgendwo hinkönnen.

Der jüngste Bericht der Europäischen Arbeitsbehörde (basierend auf der 7. Ausgabe des EURES-Berichts ) zeichnet ein komplexes Bild des europäischen Arbeitsmarktes. Schweißer sind auf dem Kontinent Mangelware, Verwaltungsassistenten hingegen überzählig. Diese Herausforderung wird so schnell nicht verschwinden.

Arbeitskräftemangel – aber nicht überall

Auf den ersten Blick sieht der europäische Arbeitsmarkt gesund aus. Die Beschäftigung steigt, und die COVID-19-Krise scheint der Vergangenheit anzugehören – zumindest auf dem Papier.

Bei genauerem Hinsehen stößt man jedoch auf ein gravierendes Ungleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage. Mehrere Faktoren spielen eine Rolle: die alternde Bevölkerung, der rasante technologische Wandel, der Übergang zu einer digitalen und grünen Wirtschaft und das mangelnde Interesse junger Menschen an körperlich anstrengenden oder weniger angesehenen Berufen.

Zu den Berufen, in denen es derzeit am stärksten mangelt, zählen Schweißer, Köche, Gesundheitspersonal und Elektriker. Was haben sie gemeinsam? Sie sind körperlich sehr gefordert, benötigen technische Fähigkeiten – und es gibt immer weniger junge Menschen, die bereit sind, diese Berufe zu ergreifen.

Im Gegensatz dazu herrscht in Europa ein Überangebot an Arbeitskräften in Verwaltungs- und Büroberufen – den Branchen, die am stärksten von Automatisierung und KI betroffen sind. Kurz gesagt: Wenn eine Arbeit von einem Algorithmus erledigt werden kann, ist es unwahrscheinlicher, dass noch ein Mensch benötigt wird. Dennoch absolvieren viele Menschen weiterhin eine Ausbildung oder bewerben sich für diese Jobs, was das Missverhältnis verschärft.

Frauen und Jugendliche bleiben von gefragten Jobs ausgeschlossen

Soziale und kulturelle Normen spielen bei diesen Trends eine große Rolle. Nur 29 % der Arbeitnehmer in Mangelberufen sind Frauen.

Warum so wenige? Viele der gefragten Berufe – im Baugewerbe, in der Logistik und in der Industrie – gelten traditionell als „Männerberufe“. Obwohl immer mehr Initiativen versuchen, Geschlechterbarrieren abzubauen, sprechen die Zahlen für sich.

Der gegenteilige Trend zeigt sich in den übersättigten Berufen: 62 Prozent der Verwaltungs- und Büroangestellten sind Frauen. Genau diese Sektoren werden automatisiert. Stereotype Berufswahlen haben reale wirtschaftliche und soziale Folgen.

Auch in Mangelberufen sind junge Menschen kaum vertreten. Trotz vieler gezielter Beschäftigungsprogramme können junge Menschen die Lücken nicht füllen. Das ist besorgniserregend, denn wenn ältere Arbeitnehmer in Rente gehen, gibt es niemanden, der sie ersetzt. Europa könnte bald mit einer Generationslücke auf dem Arbeitsmarkt konfrontiert sein, die schwieriger zu beheben ist als der heutige Fachkräftemangel.

Transport und Logistik in der Krise

Der Bericht widmet sich insbesondere dem Transport- und Lagerwesen, wo der Personalmangel zunehmend kritisch wird. Lkw-Fahrer verschwinden – obwohl die Nachfrage nach Lieferungen steigt.

Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Junge Menschen melden sich nicht, und die Arbeitsbedingungen sind hart. Lange Arbeitszeiten, wenig Zeit für die Familie und Sicherheitsbedenken sind große Abschreckungsmittel.

Darüber hinaus gefährden die weit verbreitete Schwarzarbeit und Scheinselbstständigkeit in diesem Sektor die Arbeitsplatzsicherheit und den Ruf der Branche.

Dabei handelt es sich nicht nur um ein demografisches Problem, sondern um die Folge einer tieferen strukturellen und sozialen Vernachlässigung.

Europas digitale Kompetenzlücke

Digitale Kompetenzen werden in Zukunft über Erfolg oder Misserfolg der europäischen Arbeitskräfte entscheiden. Die aktuellen Zahlen sind besorgniserregend: Nur 5,6 % der Erwachsenen in der EU verfügen über grundlegende digitale Kompetenzen.

Das bedeutet, dass die Mehrheit der Erwachsenen Aufgaben wie Datenanalyse, Codierung oder die Arbeit mit automatisierten Systemen nicht ohne weiteres bewältigen kann – Fähigkeiten, die schnell unverzichtbar werden.

Ohne starke, zugängliche Systeme des lebenslangen Lernens läuft Europa Gefahr, im globalen Wettlauf um Innovation zurückzufallen. Die digitale Kluft schränkt nicht nur die Berufsaussichten ein – sie erhöht auch das Risiko sozialer Ausgrenzung, insbesondere für ältere Menschen, Menschen in ländlichen Gebieten und Personen mit niedrigerem Bildungsniveau.

Der Weg in die Zukunft: Bildung und Mobilität

Der Bericht ist eindeutig: Die Lösung liegt in Investitionen in Bildung, Ausbildung und Arbeitskräftemobilität. Initiativen wie der Pakt für Kompetenzen zielen darauf ab, die Lernsysteme zu modernisieren und die Erwachsenenbildung auszubauen.

Auch die MINT- Bildung (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik) gewinnt zunehmend an Bedeutung , insbesondere für Frauen und junge Menschen. Dies ist der Schlüssel zur Überbrückung der Qualifikationslücke und zur Verringerung der sozialen Ungleichheit auf dem Arbeitsmarkt.

Europa steht an einem Wendepunkt: Entweder werden die Ungleichheiten von heute verstärkt – oder es wird ein Arbeitsmarkt geschaffen, der für die Zukunft gerüstet ist: inklusiver, dynamischer und besser an die Realitäten des digitalen Zeitalters angepasst.

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