Ab Juni 2025 müssen alle EU-Mitgliedsstaaten ein neues Gesetz umsetzen, das die Art und Weise, wie Millionen von Menschen die Welt um sie herum erleben, verändern könnte: den Europäischen Rechtsakt zur Barrierefreiheit (EAA). Dieses Gesetz soll den über 100 Millionen EU-Bürgern mit Behinderungen gleichberechtigten Zugang zu Produkten und Dienstleistungen gewährleisten und legt EU-weite Barrierefreiheitsstandards fest. Ob Sie einen Geldautomaten benutzen, ein E-Book lesen, online einkaufen, öffentliche Verkehrsmittel nutzen oder ein Smartphone verwenden – diese Dienste und Tools müssen für alle zugänglich sein.

Es ist ein Schritt in Richtung der Grundwerte der EU: Gleichheit, Inklusion, Mobilität und Solidarität. Doch obwohl das Gesetz ein starkes Signal sendet, wirft es auch wichtige Fragen auf: Kann es in allen 27 Mitgliedstaaten wirksam umgesetzt werden? Wird es im Alltag wirklich etwas bewirken?

Ein Gesetz, 27 Realitäten: Kann es in der gesamten EU funktionieren?

Das Hauptziel des EAA besteht darin, Barrieren zu beseitigen, die Menschen mit Behinderungen lange Zeit von der uneingeschränkten Teilhabe am gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben ausgeschlossen haben. Der Umfang des Programms ist ehrgeizig und umfasst Sektoren wie Finanzen, Verkehr und digitale Technologien.

Was bedeutet das in der Praxis?

  • Fahrpläne müssen gut lesbar bzw. hörbar sein.
  • Fahrkartenautomaten und Geldautomaten müssen über taktile, akustische oder visuelle Schnittstellen verfügen.
  • Digitale Dienste müssen mit unterstützenden Technologien kompatibel sein.

Es geht nicht nur um technische Spielereien – es geht um einen Systemwandel. Die EU strebt zwar einen harmonisierten Rechtsrahmen an, doch ein Patentrezept gibt es nicht. Jedes Land hat seine eigene Infrastruktur, Wirtschaft und Verwaltung. Wird der EAA flexibel genug sein, um lokale Gegebenheiten zu berücksichtigen und gleichzeitig echte Veränderungen zu bewirken? Die Zeit wird es zeigen.

Notrufe und Fortbewegung: Reichen gute Gesetze aus?

Ein wichtiges Highlight des EAA ist der garantierte Zugang zur Notrufnummer 112 – per Sprache, Text oder Video, von überall in der EU aus. Das ist ein starkes Versprechen universeller Sicherheit. Doch dafür braucht es mehr als nur gute Absichten. Die Länder brauchen die technische Infrastruktur und ausgebildete Notrufmitarbeiter, um dies zu verwirklichen – und nicht alle sind dafür bereit.

Dasselbe gilt für den öffentlichen Nahverkehr. Bahnhöfe benötigen barrierefreie Bildschirme und Durchsagen, und alle Serviceinformationen müssen leicht zu finden und zu verstehen sein. Dies könnte die Mobilität und Unabhängigkeit von Millionen Menschen verbessern – doch die Modernisierung der Infrastruktur ist teuer. Länder in Mittel- und Südeuropa könnten ohne starke EU-Unterstützung Schwierigkeiten mit der Finanzierung haben.

Geschäft und Erreichbarkeit: Kosten oder Chance?

Das EAA gilt auch für den privaten Sektor. Denken Sie daran:

  • Banken machen Geldautomaten für Rollstuhlfahrer und Menschen mit Sehbehinderungen zugänglich.
  • E-Books mit Text-to-Speech-Funktionen.
  • Smartphones funktionieren nahtlos mit unterstützender Software.

Für viele Unternehmen, insbesondere kleine und mittlere, bedeutet dies neue Investitionen in Technologie und Mitarbeiterschulungen – und möglicherweise sogar ein Umdenken in ihren Geschäftsabläufen. Bisher wurde Barrierefreiheit oft als Bonus betrachtet. Mit dem EAA ist sie jedoch eine gesetzliche Verpflichtung.

Die Europäische Kommission argumentiert, dass barrierefreies Design zu Innovation und Wirtschaftswachstum führt. Für kleinere Akteure könnte dieser Wandel jedoch schwierig werden – es sei denn, die EU bietet ihnen auch finanzielle und strukturelle Unterstützung, um ihnen bei der Anpassung zu helfen, ohne sie vom Markt zu verdrängen.

Bewusstsein und Schulung: die unsichtbare Voraussetzung

Die EAA schreibt vor, dass Dienstleister Schulungen zum Thema Barrierefreiheit und den Bedürfnissen von Menschen mit Behinderungen erhalten müssen. Ziel ist es, in Institutionen und Unternehmen eine Kultur der Empathie und des Bewusstseins zu schaffen.

Der Haken dabei ist jedoch: Es gibt keine klaren Regeln für die Durchführung der Schulungen und auch keine Strafen für das Versäumen einer Schulung. Das bedeutet, dass die Qualität der Schulungen in den einzelnen Ländern und Branchen stark variieren kann – und an manchen Orten findet sie möglicherweise überhaupt nicht statt.

Echte Barrierefreiheit hängt nicht nur von Technologie oder physischer Infrastruktur ab. Es geht um einen Wandel der Einstellung – und dazu braucht es mehr als Gesetze. Ohne echtes Engagement von Entscheidungsträgern und Organisationen könnten einige Teile der EAA nur symbolische Wirkung haben.

„Niemanden zurücklassen“ – ein Versprechen, das es zu halten gilt?

Die Europäische Kommission sagt, das Ziel des EAA sei es, allen EU-Bürgern gleiche Chancen zu sichern und sicherzustellen, dass „niemand zurückgelassen wird“. Das ist eine starke, hoffnungsvolle Aussage – doch es braucht mehr als nur gute Absichten.

Derzeit sieht das EAA keinen unabhängigen Beschwerdemechanismus für Bürger vor. Und es gibt keine Garantie dafür, dass die Mitgliedstaaten das Gesetz in einer Weise umsetzen, die seinem Geist wirklich entspricht – und nicht nur das absolute Minimum.

Ein barrierefreies Europa ist derzeit eher ein Ziel als Realität. Die Gewährleistung einer einheitlichen Barrierefreiheit in der gesamten EU erfordert Zeit, politischen Willen, finanzielle Mittel und die aktive Beteiligung der Zivilgesellschaft.

Die Zukunft beginnt im Jahr 2025 – doch der Wandel hängt von uns ab

Der Europäische Rechtsakt zur Barrierefreiheit ist ein Meilenstein – sowohl rechtlich als auch symbolisch. Doch echte Veränderungen werden nicht allein durch die Unterzeichnung eines Gesetzes erreicht. Sie werden von den Menschen kommen: von lokalen Regierungen, Unternehmen, Bürgern – und insbesondere von jungen Europäern, die sich für eine gerechtere und inklusivere Zukunft einsetzen können.

Ob der EAA die Grundlage für ein wirklich barrierefreies Europa wird oder nur eine weitere Politik, die auf dem Papier gut aussieht – das liegt an uns allen.

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