Eine alltägliche Angelegenheit
„Ein Gespenst geht um in Europa“ – mit diesen Worten eröffnet Marx das Kommunistische Manifest und greift dabei auf die Symbolkraft von Shakespeares Form zurück. In Hamlet, genauer gesagt, ist der Geist des toten Vaters nicht direkt ein Vorbote der Tragödie; er verkörpert vielmehr eine unerfüllte Pflicht und das Bedürfnis nach Gerechtigkeit. Marx nutzte dieses symbolische Gewicht, um diese innere Angst auf die politische Bühne zu übertragen: das Gespenst der Revolution, das den Kontinent heimsuchte. Dieses Gespenst war, wie es dargestellt wurde, kein Faktor des Schreckens – nun ja, für manche schon –, sondern Symptom einer historischen Abwesenheit, die Präsenz verlangte. Zwei Jahrhunderte sind seither vergangen, und ein anderes Gespenst geht um, nicht klassenbedingt, sondern existenziell – es ist nicht in Fabriken zu finden, sondern über den Wohnzimmern: das Gespenst der Einsamkeit, diffus und politisch verkomplizierend. Europa wird nicht nur von der Revolution heimgesucht, die nicht kam; es wird von der Nähe heimgesucht, die ein demokratischer Pluralismus der Bürgerbeteiligung zu Frustration und sozialem Zerfall geführt hat.
Das Thema Einsamkeit hat viele Künstler inspiriert und erreichte seinen Höhepunkt wohl während der COVID-Quarantäne, als Edward Hoppers Werke besonders relevant und populär wurden, vor allem, wenn man bedenkt, dass Einsamkeit in seiner Welt kein Zeichen von „Verfall“, sondern ein natürlicher Zustand ist. Dasselbe lässt sich nicht über das europäische Phänomen der Einsamkeit sagen. Was einst ein „privates“ Thema war, ist zu einer öffentlichen, fast schon politischen Plage geworden, die von Regierungen wie die Arbeitslosigkeit gemessen wird – mit Ministerien und Gegenmaßnahmen wie der „sozialen Verschreibung“. Die Reaktion selbst belegt, dass das Problem als Symptom einer strukturellen und nicht einer atomaren sozialen Dysfunktion entsteht.
Daten des Europäischen Forschungszentrums zeigen, dass sich mehr als ein Drittel der EU-Bürger zumindest zeitweise isoliert fühlt , während jeder Achte chronische Isolation erlebt. Betrachtet man die qualitativen Merkmale dieser Zahlen, zeichnet sich ein Muster ab: Junge Menschen sind besonders gefährdet, finanziell unsichere und alleinlebende Menschen erleben die Isolation intensiver – ein zutiefst politischer Punkt. Gleichzeitig wird betont, dass mit zunehmender Vernetzung unserer Gesellschaften durch die Digitalisierung soziale Bindungen und Vertrauen immer fragiler werden. Die Pandemie selbst, die uns heute weit entfernt scheint, hat diesen Widerspruch hervorgerufen; obwohl sie aus der Not geboren wurde, führte sie zu einer Hyperkommunikation, die emotionale Distanz im Grunde verschleierte.
