Der in Deutschland geborene amerikanische Psychoanalytiker und Sozialphilosoph Erich Fromm beschreibt Narzissmus als eine der drei Formen dessen, was er das Verfallssyndrom nennt. Das Kernproblem des Narzissmus, so Fromm, liegt darin, dass Narzissten völlig unfähig sind, die Realität außerhalb ihrer selbst wahrzunehmen, und genau diese Abkapselung macht ihn so zerstörerisch. Laut Fromm können zahlreiche Faktoren zum Verfall eines Menschen beitragen, doch im Grunde streben alle Menschen zunächst danach, „das Leben zu überwinden“. Dies tun sie auf zwei Arten: durch Biophilie – abgeleitet vom Griechischen bio (Leben) und philia (Freundschaft) – oder durch Nekrophilie, abgeleitet von nekro (Tod) und philia.
Biophilie bejaht das Leben, Nekrophilie verneint es, doch beide dienen als Bewältigungsmechanismen für die Herausforderungen des Daseins. Narzissmus, so Fromm, tritt als sekundärer Mechanismus auf und tendiert zum nekrophilen Pfad. Warum? Weil er nicht lebensbejahend, sondern stark individualistisch und egozentrisch ist, während der Mensch von Natur aus ein soziales Wesen ist. Die Realitätsferne hindert Narzissten jedoch nicht an der Anpassung; sie verbergen oft ihr Desinteresse am Gemeinschaftsleben und können sogar Gruppen bilden.
Die stark narzisstische Gruppe sucht nach einem Anführer, mit dem sie sich identifizieren kann. Dieser Anführer wird dann von der Gruppe bewundert, die ihren Narzissmus auf ihn projiziert… Der Narzissmus des Einzelnen wird auf den Anführer übertragen. Ironischerweise lieben Narzissten sich selbst selten. Ihr Selbstwertgefühl ist vielmehr an eine kollektive Identität – Nation, Ethnie, Religion oder Ideologie – geknüpft, weil sie sich im Grunde unzulänglich fühlen. Die Zugehörigkeit zu einer Gruppe verleiht ihnen Bedeutung, und sie sind bereit, diesen vermeintlichen Status um jeden Preis zu verteidigen. Die Folge? Radikalismus.
Doch nicht alle Mitglieder einer radikalen Bewegung sind zwangsläufig Narzissten; die Statistiken würden dem widersprechen. Entscheidend ist, dass die Gruppe selbst narzisstisch agiert, eine Tendenz, die Fromm als sozial übertragen beschreibt. Menschen haben ein Bedürfnis nach Zugehörigkeit, insbesondere in Zeiten wirtschaftlicher Not oder geringen Selbstwertgefühls. Führungskräfte, die kollektive Unzufriedenheit bewältigen wollen, erreichen dies am effektivsten, indem sie der Gruppe ein narzisstisches Objekt bieten – jemanden oder etwas, das sie bewundern und mit dem sie sich identifizieren können.
Die Geschichte liefert zahlreiche Beispiele für narzisstische Gruppen – Nationen, politische Bewegungen und Rebellenfraktionen –, die oft radikalisiert und von ihrer Mission besessen sind. Doch was geschieht, wenn jemand ihre Ideologie infrage stellt? Repression und Gewalt folgen. Die Schreckensherrschaft beginnt. Völkermord in Armenien, Ruanda, Bosnien und Kambodscha findet statt. Schriftsteller, Schauspieler und Regisseure werden auf schwarze Listen gesetzt. Die Ermordung von Führern und Denkern wie Cäsar, Sokrates, Trotzki und Nawalny findet statt. Der Holocaust findet statt.
