Wenn wir an Umweltverschmutzung denken, stellen wir uns oft smogverhangene Himmel, Plastik in den Ozeanen oder Giftmüll vor. Doch es gibt noch eine andere Form der Verschmutzung, die sich direkt vor unseren Augen – oder besser gesagt: in unseren Ohren – verbirgt. Es ist das ständige Dröhnen des Verkehrs, das Summen der Flugzeuge über uns, das Rumpeln der Züge: Umgebungslärm. Und obwohl er meist unsichtbar ist, sind seine Auswirkungen laut und deutlich.

Laut der Europäischen Umweltagentur (EUA) ist Lärmbelästigung – insbesondere durch den Verkehr – eines der größten Umweltrisiken für die Gesundheit in Europa. Dennoch bleibt sie in den meisten politischen Debatten und im öffentlichen Bewusstsein seltsamerweise unbeachtet.

Europas Dezibelfalle

Die Zahlen sprechen Bände. Über 110 Millionen Europäer – also mehr als jeder Fünfte – sind Lärmpegeln ausgesetzt, die über den in den EU-Vorschriften festgelegten Grenzwerten liegen.

Der Hauptschuldige? Der Straßenverkehr. 92 Millionen Menschen sind tagsüber Lärm von über 55 Dezibel (dB) und nachts von über 50 dB ausgesetzt – Grenzwerte, die in der EU-Umgebungslärmrichtlinie festgelegt sind. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) legt die Messlatte jedoch noch niedriger an. Ihren Richtlinien zufolge sind die Grenzwerte für eine sichere Lärmbelastung strenger – das bedeutet, dass mehr als 150 Millionen Europäer tatsächlich gefährdet sein könnten.

Eine stille Epidemie

Übermäßiger Lärm ist mehr als nur lästig – er ist gefährlich. Chronische Belastung kann eine ganze Reihe von Gesundheitsproblemen auslösen, angefangen bei Schlafstörungen und Stress bis hin zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Stoffwechselstörungen und sogar psychischen Problemen.

Verkehrslärm trägt jedes Jahr dazu bei:

  • 66.000 vorzeitige Todesfälle
  • 50.000 neue Fälle von Herzerkrankungen
  • 22.000 neue Fälle von Typ-2-Diabetes

Neuere Studien weisen auch auf seine mögliche Rolle bei der Entstehung von Depressionen und Demenz hin.

Und auch junge Menschen bleiben davon nicht verschont. Allein im Jahr 2021 wurde Lärmbelastung mit folgenden Faktoren in Verbindung gebracht:

  • 560.000 Fälle von Leseverständnisminderung bei Kindern
  • 63.000 Verhaltensprobleme
  • 272.000 Fälle von Übergewicht oder Fettleibigkeit

Lärmbelästigung zählt in Europa mittlerweile zu den drei größten Umweltgefahren für die Gesundheit, neben Luftverschmutzung und klimabedingten Risiken – noch vor Gefahren wie Passivrauchen oder Bleibelastung.

Die Natur ist nicht immun

Lärmbelästigung beschränkt sich nicht nur auf den Menschen. Die EUA warnt, dass mindestens 29 % der Natura-2000- Gebiete – geschützte Lebensräume für Europas wertvollste Arten – schädlichen Lärmpegeln ausgesetzt sind, die das Verhalten der Wildtiere stören.

In den Ozeanen verschärft sich das Problem. Meereslärm durch Schiffe, Offshore-Bauarbeiten und die Rohstoffsuche bedroht empfindliche Arten wie Wale und Delfine und beeinträchtigt ihre Navigation, Kommunikation und Jagdfähigkeiten.

Die schlimmste Unterwasserlärmbelastung wurde im Ärmelkanal, in der Straße von Gibraltar, in der Adria, in den Dardanellen und in Teilen der Ostsee registriert.

Die Kosten berechnen

Lärmbelästigung ist nicht nur ein Umwelt- oder Gesundheitsproblem, sondern auch ein wirtschaftliches.

Die externen Kosten lärmbedingter Krankheiten in der EU werden auf jährlich 95,6 Milliarden Euro geschätzt – das entspricht fast 0,6 Prozent des BIP der EU. Diese Kosten entsprechen den Kosten weit verbreiteter nicht übertragbarer Krankheiten und sind höher als die Kosten mancher Umweltkatastrophen.

Doch trotz des Ausmaßes des Problems sind die Fortschritte quälend langsam. Zwischen 2017 und 2022 sank die Zahl der Menschen, die in der EU stark von Lärm betroffen sind, lediglich um 3 %.

Der Null-Schadstoff-Aktionsplan der EU zielt darauf ab, die chronische Lärmbelastung bis 2030 um 30 % zu senken. Die EUA warnt jedoch, dass dieses Ziel ohne zusätzliche und entschlossene Maßnahmen unerreichbar sei.

Echte Lösungen liegen auf dem Tisch

Glücklicherweise wissen wir, was funktioniert.

Die EEA empfiehlt mehrere wirksame Lösungen, darunter:

  • Schaffung von Grün- und Ruhezonen in Städten
  • Reduzierung der Geschwindigkeitsbegrenzungen in städtischen Gebieten
  • Investitionen in eine leisere Schieneninfrastruktur
  • Förderung geräuscharmer Reifen und Fahrzeuge

In der Luftfahrt sind die Neuorganisation von Flugrouten und die Modernisierung von Flugzeugflotten zur Reduzierung der Schallemissionen von entscheidender Bedeutung.

Auch Städte können neu konzipiert werden. Städtische „Pufferzonen“ – Grünstreifen, die Straßen von Wohngebäuden trennen – und die Förderung nachhaltiger Mobilität (Radfahren, Gehen und öffentliche Verkehrsmittel) können den Lärm an der Quelle reduzieren.

Ein systemisches Problem erfordert eine systemische Antwort

Leena Ylä-Mononen, Exekutivdirektorin der EUA, sagt es deutlich: Lärm ist keine persönliche Unannehmlichkeit, sondern ein strukturelles Problem.

„Lärmbelästigung wird oft übersehen und als Teil des Alltags behandelt. Doch ihre Auswirkungen sind weitreichend und schwerwiegend“, sagt sie.

Ihre Botschaft an die EU-Länder ist klar: Die Bekämpfung der Lärmbelästigung ist keine Option. Sie ist eine Notwendigkeit, wenn Europa seinen Verpflichtungen in den Bereichen Umwelt und öffentliche Gesundheit wirklich nachkommen will.

Denn Lärm macht nicht an Grenzen halt – und betrifft Menschen unabhängig von Alter, Einkommen oder Herkunft. Um ihn zu bekämpfen, ist der gleiche politische Wille erforderlich wie für die Bekämpfung des Klimawandels oder die Luftreinhaltung.

Nur dann kann Europa zu einem Ort werden, an dem Ruhe wieder geschätzt wird – für unsere Gesundheit, unser Wohlbefinden und den Planeten, den wir teilen.

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